Ausnahmezustand im Athener Stadtzentrum. Seit Samstagabend herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Inzwischen nicht mehr nur in Athen. Die Situation hat sich auf alle griechischen Großstädte ausgebreitet. Auch heute Morgen halten die Unruhen unvermindert an. Athen, Thessaloniki, Ioannina, Chania, Iraklio, Agrinio und Patras werden von Straßenkämpfen zwischen Polizeikräften, autonomen Gruppen und aufgebrachten Bürgern beherrscht. Dieser Bericht versucht die Situation aus bürerlicher Sicht zu beschreiben.
Auslöser waren die Todesschüsse aus einer Polizeipistole auf einen 15jährigen Schüler.
Das war passiert:
In den frühen Nachtstunden des 6. Dezembers feiert eine Gruppe Jugendliche den Namenstag eines “Nikolaos”. Die etwa 30 Schüler sind im Athener Stadtviertel Exarxchia als sie einer Polizeistreife begegnen. Die Jugendlichen beschimpfen die Polizisten in ihrem Streifenwagen, beleidigen sie mit unflätigen und abwertenden Ausdrücken. Möglicherweise – so die Aussage einiger Polizisten – werfen sie Gegenstände auf den Wagen. Zunächst fährt der Streifenwagen weiter. Die Polizisten parken ihn direkt neben dem Polizeibus, der als mobile Einsatzstelle für die Spezialkräfte dient, die den dort befindlichen Hauptsitz der Oppositionspartei PASOK bewachen.
Ohne die Spezialkräfte zu informieren kehren die Streifenpolizisten zu Fuß zu den Jugendlichen zurück und provozieren diese. Einer der Polizisten gibt bei der späteren Vernehmung an, er wollte die 30 Jugendlichen zusammen mit seinem Kollegen wegen der Beleidigungen verhaften. Die Jugendlichen gehen auf die Polizisten zu. Daraufhin wirft einer der Polizisten eine Leuchthandgranate in die Menge. Der andere, der Fahrer des Streifenwagens, gibt drei Schüsse ab. Ein 15jähriger – aus “gutem Hause”, wie es später heißt – sackt getroffen zusammen. Ein Freund ruft um Hilfe, kann keinen Puls mehr spüren. Der Junge ist tot. Die Polizisten reagieren nicht. Sie gehen ihres Wegs, als ob nichts geschehen wäre. Hilfe leisten sie nicht.
Dieser Hergang wird inzwischen von allen Seiten, auch den Polizisten selbst, bestätigt. Allerdings beruft sich der Schütze auf Notwehr. Er habe sich bedroht gefühlt, daher zweimal in die Luft und einmal auf den Boden geschossen. Augenzeugen berichten dagegen von gezielten Schüssen.
Nach diesem Vorfall haben sich in allen großen griechischen Universitätsstädten Protestbewegungen gebildet. Sie weiteten sich im Lauf des Sonntags auf Patras, Agrinio und weitere Städte aus.
Medienberichte über den Vorfall gab es für die Griechen allerdings bis zum Sonntagvormittag nur per Radio, Internet oder CNN. Die ansonsten recht schnelle griechische Berichterstattung über Aufsehen erregende Ereignisse blieb zunächst aus. In den frühen Morgenstunden wurde dann offenbar der Druck auf die großen Medienanstalten zu groß. Die Unruhe wuchs, als immer mehr Geschäfte und Kioske beschädigt wurden. Straßenbarrikaden wurden aufgebaut. Die Polizei ging mit Reizgas auf die Demonstranten los. Beide Seiten nahmen keinerlei Rücksicht auf Anwohner und Passanten.
Erst seit gestern Vormittag finden die Unruhen auch in den großen griechischen Medien statt. Zunächst berichtete der staatliche Fernsehsender ERT und Net, später in mehrstündigen Sondersendungen der private Sender Skai über die ausufernden Proteste. Die massive Polizeipräsenz auf den Straßen um das Athener Zentrum, sowie die andauernden Hubschrauberflüge, waren nicht mehr totzuschweigen.
Die Zurückhaltung der Medien war völlig ungewohnt. Normalerweise sind mindestens drei Ü-Wagen vor Ort, wenn eine Katze in einem griechischen Ort von einem Baum geholt wird. Nicht so diesmal. Lediglich einige wenige kleine unabhängige Rundfunksender berichteten von Anfang an. Vorwürfe der Bürger, die Medien seien staatlich gesteuert, sind nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Griechische Medien werden über einen Werbetopf finanziert, der zum großen Teil in der Hand der Banken und des Staates liegt. Verleger und Rundfunkveranstalter sind oft Bauunternehmer und Industrielle.
Staatspräsident Papoulias, die gesamte Opposition und auch die Regierung verurteilten unterdes einstimmig den Vorfall. Ein Novum. In Griechenland geht das auch anders. So wurde während der Studentenunruhen 2006/2007 ein Student in Thessaloniki von Polizeikräften so brutal verprügelt, dass er heute geistig behindert ist. Damals stellte sich der verantwortliche Innenminister Polydoras von der regierenden Nea Dimokratia demonstrativ vor seine Untergebenen und rechtfertigte deren Handeln. Diesmal hat der Nachfolger Polydoras, Prokropis Paulopoulos, bereits in den ersten Stunden nach den Schüssen dem Ministerpräsidenten Griechenlands und Vorsitzendem der Nea Dimokratia, Kostas Karamanlis, seinen Rücktritt angeboten. Der wurde allerdings abgelehnt.
Aus der Empörung über den Tod des Jungen ist inzwischen eine mächtige Protestaktion geworden. Unter den Demonstranten sind nicht nur gewaltbereite Autonome, sondern viele sogenannte Normalbürger. Dutzende Menschen sind bereits verletzt worden. Mehrere Ladenlokale wurden völlig zerstört.
Die Explosivität der derzeitigen Situation in Griechenland lässt sich nur verstehen, wenn man den tragischen Tod des Schülers vor dem Hintergrund der aktuellen politischen, ökonomischen und soziologischen Gegenwart Griechenlands betrachtet. Bisher vom Ausland weitgehend unbemerkt ist die Regierungspartei Nea Dimokratia mehr und mehr in eine Krise gestürzt, die den griechischen Staat in seinen Grundfesten erschüttert. Die Regierung Karamanlis hatte 2003 die damals politisch heillos zerstrittene und in mehrere Skandale verwickelte Regierung der sozialistischen PASOK abgelöst. Der Slogan Karamanlis, „Σεμνά και ταπεινά“ – “Bescheiden und ehrfürchtig” sollte seine Regierung beschreiben. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Kurz nach den noch von der PASOK vorbereiteten Olympischen Spielen 2004, die Athen aufblühen ließen erschütterten mehrere Skandale die Regierung. Der Kürze halber seien nur die Skandale eines einzigen Ministers der Regierung Karamanlis angeführt. Die Art und Weise, wie mit diesen Vorfällen umgegangen wurde, ist allerdings charakteristisch.
Im Juni 2005 wurden mehrere Pakistani von offiziellen Polizeibehörden regelrecht entführt. Verantwortlicher Minister war damals Georgios Voulgarakis. Er blieb trotz des Nachweises, dass er über die Vorgänge offensichtlich informiert war, weiter im Amt.
Kurz darauf zerstörte ein weiterer Vorfall das Vertrauen in die Regierung – der Abhörskandal. Regierungsmitglieder, Oppositionelle, Journalisten und sogar der Ministerpräsident wurden abgehört. Der Kronzeuge des Skandals starb auf mysteriöse Weise. Offiziell ging man von Selbstmord aus.
Im Sommer 2007 stand fast ganz Griechenland in Flammen. Waldbrände, die offensichtlich von Brandstiftern gelegt worden waren, hatten weite Teile der griechischen Wälder zerstört. Das Land selbst stand mitten im Wahlkampf für die im September stattfindenden Parlamentswahlen. Drei Wochen vor den Parlamentswahlen brannten sogar Teile der antiken Olympischen Stadien. Die Regierung zeigte sich machtlos. Es gab zahlreiche Todesopfer.
Während Griechenland trauerte und entsetzt feststellen musste, dass selbst das antike Erbe nicht geschützt wurde, trat der Staatssekretär von Minister Voulgarakis, Zachopoulos, vor die Kamera und konnte keine Aussage zur Bedeutung Olympias für die griechische Geschichte machen. Dennoch erhielt Georgios Voulgarakis nach den gewonnenen Parlamentswahlen 2007 den Posten des Handelsmarineministers. An seiner exponierten Position in der Regierung änderte sich auch weiterhin nichts.
Voulgarakis hatte erst ausgedient, als er es in seiner Funktion als Handelsmarineminister etwas zu weit trieb. Er hatte Personalentscheidungen des Ministeriums mit der Besetzung von Posten in seiner privaten Immobilienfirma vermischt. Darüber hinaus haben seine Frau, sein Schwager und auch sein Schwiegervater gut an den offensichtlich illegalen Grundstücksgeschenken staatlicher Filetgrundstücke an ein Mönchskloster verdient. Die Ehefrau war als Notar an den Verträgen beteiligt, wofür sie mit einem staatlich festgelegtem Prozentsatz der Grundstückswerte (nahezu eine Milliarde Euro) als Honorar belohnt wurde. Schwager und Schwiegervater waren anwaltlich für das Kloster tätig und Voulgarakis sorgte offenbar zusammen mit einigen Ministerkollegen für die nötigen Unterschriften.
Orthodoxie ist Staatsreligion, der christliche Glaube in der griechischen Bevölkerung tief verwurzelt. Schwer wiegt daher der Schock, Mönche als Immobilienhändler oder gar Betrüger erkennen zu müssen. Das soziokulturelle Gefüge des Landes wird dadurch tief erschüttert. Ebenso schwer wiegt, dass reihenweise Minister als raffgierig oder korrupt überführt werden. Sozialminister treten mehr oder weniger freiwillig zurück, nachdem ihnen nachgewiesen wird, dass private Freunde mit Versicherungsgeldern an der Börse spekuliert und verloren haben. Der Nachfolger im Sozialministerium darf gehen, da er illegale Immigranten als Arbeitskräfte einsetzt – unversichert natürlich.
Presseminister Roussopoulos durfte seinen Hut nehmen, nachdem ihm einerseits nachgewiesen wurde, dass er zu sehr in den Mönchsdeal involviert war, andererseits befreundeten Journalisten Zeitungen finanzierte. Eine Zeitung erhielt als verkappten Zuschuss einen Werbeetat für staatlich finanzierte Werbung, der einem Betrag von 24 Euro pro Leser entspricht.
Finanzminister Alogoskoufis ist dafür verantwortlich, dass die Staatsfinanzen brach liegen und staatliche Krankenhäuser wegen insgesamt einer Milliarde Euro Schulden aus nicht bezahlten Rechnungen nicht mehr beliefert werden. Der Staat ist einfach seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen. Damit nicht genug: Auch die klammen Sozialversicherungskassen bekommen keine Unterstützung. Selbst Sozialpflichtversicherte Arbeitnehmer müssen Medikamente und Ärzte zunächst privat bezahlen.
Griechische Schulkinder müssen derzeit als einzige in Europa während der Sekundarstufe durchgehend Nachhilfeschulen besuchen. Die Qualität der staatlichen Schulen ist zu schlecht.
Darüber hinaus leidet Griechenland an einer Teuerungsrate für die Grundversorgung, die in ganz Europa Ihresgleichen sucht. Die Banken, die trotz Rekordgewinnen eine staatliche Stütze von 28 Milliarden Euro erhalten, erhöhen die Zinsen für Privat- und Geschäftskunden, während gleichzeitig die europäische Zentralbank den Zinssatz senkt.
Die derart strapazierten Griechen befinden sich derzeit fast alle am Rand des wirtschaftlichen Ruins. Im Gegensatz zum übrigen Europa gibt es noch keine Signale von der Politik, die auf bessere Zeiten oder wenigstens eine kontrollierte Krise hoffen lassen. Im Gegenteil. Minister Alogoskoufis will eine Kopfsteuer einführen, die selbst Bürger unter der Armutsgrenze trifft. Demnach soll jeder Bürger Steuern zahlen, unabhängig davon ob er irgendwelche Einnahmen hat. Der gleiche Minister, der durch seine Unterschrift unter den Immobiliendeal mit den Mönchen den Staat um eine Milliardensumme geschädigt hat und den Banken einen weiteren Bonus verschafft hat.
Vor diesem Hintergrund, und mit dem Wissen, dass noch keine der für die oben genannten Skandale verantwortlichen Personen zur Rechenschaft gezogen wurde, muss man die bürgerkriegsähnlichen Zustände im heutigen Athen betrachten. Die Griechen haben ihr Vertrauen in Kirche, Regierung und Justiz verloren.
Passanten am Rand der Demonstrationen zeigten sich empört darüber, dass selbst in dieser Situation der Ministerpräsident noch nicht vor die Kameras getreten ist. Das Fazit eines vom Tränengas gezeichneten Anwohners: “Karamanlis hat halt keine Cojones”.
W. Aswestopoulos, 8. Dezember 2008, Athen